Polyvagaltheorie und Aufstellungsarbeit

Was kann die Aufstellungsarbeit von der Polyvagaltheorie lernen?

Beide, die Polyvagaltheorie und die Aufstellungsarbeit, behandeln als zentrale Konzepte Sicherheit und Verbundenheit. Da liegt es nahe, dass die Aufstellungsarbeit, als ein Ansatz bei dem es um Beziehungsgestaltung, Versöhnung und Verbindung geht, viel von der Polyvagaltheorie profitieren kann.

Die Polyvagaltheorie: Erleben von Sicherheit reguliert unser ANS

Die Polyvagaltheorie von Steven Porges beschreibt den Zusammenhang zwischen dem Erleben von Sicherheit und der Reaktion unseres autonomen Nervensystems, d.h. unserer unwillkürlichen Antwort unseres Nervensystems.

Je nachdem, ob wir uns sicher fühlen oder nicht, wird ein anderer Zweig des Autonomen Nervensystems angeschaltet. Dies aktiviert dann einen jeweils völlig anderen neurophyiologische Zustand in unserem Organismus, der evolutionär für völlig andere Aufgaben entstanden ist:

  • Fühlen wir uns sicher, wird der ventrale Vagus aktiviert. Dieser versetzt uns in den Zustand der sozialen Aktivierung: Unser Organismus ist optimal darauf eingestellt, in Beziehung und Verbindung zu gehen.
  • Fühlen wir uns bedroht, wird der Sympathikus aktiviert. Dieser besorgt die notwendige Mobilisierung für Kampf oder Flucht, z.B. durch Erhöhung des Herzschlags und Ausschüttung von Hormonen wie Adreanlin zur schnellen Bereitstellung von Energie.
  • Fühlen wir uns bedroht und hilflos, wird der dorsale Vagus aktiviert. Dieser schickt unseren Körper in einen Zustand der Immobilisierung. Wir stellen uns tot, indem alle Aktivitäten unseres Organismus auf ein Minimum zurückgefahren werden. Evolutionär ermöglichte dies Beutetieren, einem lebensbedrohlichen Angriff eventuell doch noch zu entgehen.

Das Neue an der Polyvagaltheorie ist die Erkenntnis, dass sich der Vagusnerv in zwei Stänge aufteilt, die physiologisch und evolutionsbiolgisch völlig unterschiedliche Funktionen haben. Bislang kannte man die Unterscheidung in die Zustände Fight und Flight bzw. Freeze. Unbekannt war die Bedeutung von erlebter Sicherheit für die Aktivierung des „Social Engagement Systems“.

Das „Social Engagement System“

Das Social Engagement System, welches durch den ventralen Vagus aktiviert wird, stellt den Organismus darauf ein, in Beziehung zu sich und anderen zu gehen. Beispielsweise ist es mit den Gesichtnerven für die Erkennung von Mimik verknüpft oder mit dem Gehör. Helle freundliche Töne, wie z.B. fröhliche Stimmen aktiveren es.

Wenn wir aber in Verbindung mit anderen gehen und uns gegenseitig aufeinander „einschwingen“ oder in „Resonanz“ gehen, dann sind wir offen für Co-Regulation. In diesem Zustand regulieren unsere Nervensysteme sich gegenseitig. Beispielsweise beruhigen wir uns über unsere Atmung oder kommen in der Kommunikation in einen gemeinsamen Flow und eine gute Stimmung.

Das Social Engagement System ist evolutionär eine neuere Entwicklung, die es uns als soziale Lebewesen optimal ermöglicht, in Beziehung und Kooperation zu gehen.

Hier deutet sich schon an, dass die Polyvagaltheorie für die Aufstellungsarbeit, wie aber auch überhaupt für die Arbeit mit Menschen und Gruppen, eine hohe Relevanz hat.

Anwendung für Therapie und Beratung

Deb Dana hat die Polyvagaltheorie in praktische Tools für die Beratung und Therpie umgesetzt. Das Beitragsbild deutet gleich zwei dieser Tools an: Die autonome Leiter und die Ampel.

Die Ampel zeigt visualisiert die drei Zustände des Autonomen Nervensystems mit den bekannten Ampelfarben. Bei grün sind wir in einem für Beziehungsgestaltung optimalen Zustand, bei organge erleben wir die Welt als tendenziell feindlich und bei rot schalten wir aus und spalten uns von unserem Erleben ab.

Die Leiter veranschaulicht, dass wir aus dem roten Zustand, der Immobilisierung nicht sofort in den grünen Zustand springen können, sondern dass der Weg zwischen diesen beiden immer über den organgenen Zustand der Mobilisierung verläuft. Das ist wichtig, wenn man mit Traumatisierungen arbeitet, da hier die Energie (Aktivierung) eingefroren ist.

Bei einem Auftauen wird diese Energie aber wieder frei in Form von Erregung und mitunter Wut. Dies überfordert das Nervensystem tendenziell und deshalb ist ein dosiertes Auftauen hilfreich. Dazu hat z.B. Somatic Experience eigene Methoden entwickelt.

Konsequenzen für systemische Aufstellungsarbeit

Diese grundlegenden, einfachen Zusammenhänge haben vielfache Konsequenzen für unsere Arbeit als systemische AufstellerInnen. Sie geben uns eine Brille, durch die wir unsere Arbeit und die Reaktionen der Beteiligten (inklusive unserer als Leitung) beschreiben und reflektieren können. Und sie ermöglichen uns, passgenaue Interventionen zu finden.

Wenn wir beispielsweise mit Hilfe der Polyvagaltheorie lernen, den autonomen Status von uns, unseren Klienten und der Gruppe gezielt einzuschätzen, können wir entsprechende Maßnahmen ergreifen, um diesen zieldienlich zu beeinflussen.

Außerdem lassen sich Aufstellungsprozesse mit Hilfe der Polyvagaltheorie analysieren und Teile ihrer Wirkung erklären.

Schließlich gibt die Polyvagaltheorie der Aufstellungsleitung bzw. BeraterInnen und TherapeutInnen Hinweise, wie wir durch das Setting, unsere Haltung und Verhalten und unsere Interventionen immer wieder Sicherheit für unsere KlientInnen erzeugen können. Und Sicherheit ist ja bekanntlich eine der Grundfaktoren zur Bewältigung von Veränderungsprozessen sowie in der Traumtherapie.

Darüber hinaus lassen sich auch vielfache Aufstellungsübungen und sogar Formate auf der Basis der Polyvagaltheorie entwickeln.

Verbundenheit in der Polyvagaltheorie und in der Aufstellungsarbeit

Als soziale Säugetiere gehen wir laut der Polyvagaltheorie in den Zustand des „Social Engagement Systems“, wenn wir uns sicher fühlen. Dann sind wir offen dafür, mit anderen in Beziehung zu gehen bzw. uns mit anderen zu verbinden.

Verbundenheit aber ist schon immer ein zentrales Thema der Aufstellungsarbeit und fehlender Kontakt, fehlende Verbundenheit oder gestörte Beziehungen ein sehr häufiges Thema in Aufstellungen – sowohl in Familienaufstellungen als auch in Aufstellungen mit inneren Anteilen und Traumata.

Auf einer sehr allgemeinen Ebene ist fehlende Verbundenheit das zentrale Problem in den meisten Fällen. Und Aufstellungen stellen einen strukturierten Gruppenprozess, der diese Verbundenheit wieder herzustellen.

  • Im Trauma habe ich mich von eigenen Anteilen abgespalten.
  • In der Anpassung habe ich auf eigene Bedürfnisse und Lebendigkeit verzichtet.
  • In familiären und auch organisationen Konflikten bin ich aus dem Kontakt mit Anderen gegangen und es gilt wieder gute und klare Beziehungen herzustellen.

Aufstellungen als sicherer Ort

Das erste, was die Polyvagaltheorie auf einer neurologischen Ebene betont ist die Bedeutung von Sicherheit als Basis von Beziehungsgestaltung und Entwicklungsprozessen.

Hier sind Aufstellungen vom Setting her ideal geeignet, denn sie bieten einen Schutzraum, in dem vergangenen bedrohliche oder sogar traumatische Erfahrungen, aus einem sicheren Abstand, dem Außenkreis, in einer haltenden Gruppe und durch die strukturierte und achtsame Begleitung einer – hoffentlich erfahrenen – Leitung angeschaut werden können.

Sie bieten damit eine Differenzerfahrung zu einer als leidvoll erlebten, prägenden verganenen Erfahrung oder einem mit Unsicherheit und Angst besetztem künftigem Szenario. Antonia Pfeiffer, die zu emotionalen Erinnerungen geforscht hat, spricht hier von Erinnerungs-Update.

Dabei ist die Bedingung dafür, sich etwas ehemals Bedrohliches oder sogar Bedrohlich-Überwältigendes anzuschauen, das aktuelle Erleben von Sicherheit.

Erst wenn diese Sicherheit im Hier und Jetzt erlebt wird, sind wir bereit, uns das Bedrohliche oder potenziell Herausfordernde anzuschauen. Und erst, wenn wir es anschauen, ist überhaupt eine neue Verarbeitung dieser Erfahrungen und Konzepte möglich.

Das Herstellen von Sicherheit ist somit eine immer wieder zu erfüllende Aufgabe im Aufstellungsprozess. Sie beginnt mit dem Raum, der Vertraulichkeit, der Begrüßung und Eröffnungsrunde.

Sie wird durch Verhalten und Haltung der Leitung fortwährend erzeugt und stabilisiert. Und sie kann auch in konkreten Interventionen, z.B. der Ressourcierung einzelner StellvertreterInnen durch Ressourcen im Rücken, z.B. die gute Großmutter, stattfinden.

Entscheidend ist, dass Sicherheit eine immer wieder herzustellende Prozessbedingung für Kontakt und in der Folge Veränderung, Versöhnung, Verbindung und Transformation ist.

Das gilt auch für zukunftsorientierte Aufstellungen, bei denen zukünftige Optionen oder Szenarien probiert oder erkundet werden. Auch hier ist eine entscheidende Aufgabe, das Herstellen von Sicherheit, um die Unsicherheit der Entwicklung (aus-)halten zu können.

Die Grundfrage von aus der Sicht der Polyvagaltheorie für AufstellerInnen sollte also lauten:

Wie können wir als LeiterIn von Aufstellungen gefühlte Sicherheit für unsere Klienten herstellen bzw. zu ihr beitragen,
damit diese hinschauen und sich ihren Herausforderungen stellen können.

Sicherheit als Regulation des Nervensyystems durch Beziehungserfahrungen

Das Erleben von Sicherheit besteht dabei auf der Ebene des autonomen Nervensystems in dem Erleben, den eigenen Zustand regulieren zu können.

Sind wir übererregt, so können wir uns nicht mit einer Aufgabe beschäftigen, sondern switchen nervös zwischen verschiedenen Tätigkeiten und Zielen.

Wir brauchen also einen ruhigen, fokussierten Zustand, um gezielt Herausforderungen und Aufgaben angehen zu können.

Es braucht allerdings sehr viel Übung, um unseren autonomen Zustand willentlich zu beeinflussen und auch dies verläuft dann über indirekte Wege, z.B. die Atmung, Fokussierung, innere Bilder. Solche Übungen bieten Meditationspraxis, Yoga, Achtsamkeit sowie religiöse Zeremonien.

Der einfachere und natürlichere Zugang zur Regulation unseres autonomen Zustandes verläuft aber über Beziehungen bzw. Beziehungserfahrungen. Dies sind ja gerade die Erfahrungen, für die sich unser autonomes Nervensystem so entwickelt hat.

Diesen Weg beschreiten Aufstellungen, indem sie mit Beziehungskonstellationen arbeiten und diese bzw. die inneren Bildern von ihnen verändern: Über diese bzw. deren Struktur und unseren Platz und unserer Bezogenheit in einer Konstellation regulieren sie auch immer unser Nervensystem.

Vorankündigung Aufbaumodul zur Aufstellungsarbeit und Polyvagaltheorie

Wenn du Interesse hast, mehr zu den Zusammenhängen und Anwendungen der Polyvagaltheorie und der Aufstellungsarbeit zu erfahren, dann schreibe uns. 2024 bieten wir ein Aufbaumodul (Fr./ Sa.) für AufstellerInnen zu diesem Thema an.

Aufbaumodul für systemische AufstellungsleiterInnen:

„Systemische Aufstellungsarbeit und Polyvagaltheorie“

Was kann die Aufstellungsarbeit von der Polyvagaltheorie lernen?

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