Polyvagaltheorie und Aufstellungsarbeit

Was können AufstellerInnen von der Polyvagal-Theorie lernen?

Beide, die Polyvagal-Theorie und die Aufstellungsarbeit, behandeln als zentrale Konzepte Sicherheit und Verbundenheit. Da liegt es nahe, dass die Aufstellungsarbeit, als ein Ansatz, bei dem es um Beziehungsgestaltung, Versöhnung und Verbindung geht, viel von der Polyvagal-Theorie profitieren kann.

Uns hilft es sehr in Aufstellungen neben der “Systemischen Brille” immer wieder auch eine „Polyvagale Brille“ aufzuziehen und so differenzierter den Rahmen gestalten, unsere Klienten in ihrem Prozess begleiten und ein gutes Lösungsbild durch passenden Interventionen erarbeiten zu können.

Hier erhältst du einen Einblick in zentrale Zusammenhänge zwischen Aufstellungsarbeit und der Polyvagaltheorie und lernst selbst mit der „Polyvagalen Brille“, wie wir es nennen, auf systemische Aufstellungen, aber auch Beratungs- und Entwicklungsprozesse allgemein zu schauen.

Dazu haben wir übrigens auch eine Podcastfolge in unserem Podcast “Lösungsbilder” veröffentlicht. Hör gerne rein!

Die Polyvagal-Theorie: Ein kurzer Überblick

Die Polyvagal-Theorie von Steven Porges beschreibt die Funktionsweise unseres Autonomen Nervensystems (ANS), das unsere unwillkürlichen Reaktionen auf Umweltreize steuert. Dabei spielt unser subjektives Erleben von Sicherheit oder Gefahr eine zentrale Rolle, weil es zu unwillkürlichen Antworten unseres ANS führt.

1. Die drei Zustände des Autonomen Nervensystems: Verbundenheit, Mobilisierung, Starre

Je nachdem, ob wir uns sicher fühlen oder nicht, wird ein anderer Zweig des Autonomen Nervensystems angeschaltet. Dies aktiviert dann einen jeweils völlig anderen Erlebens- und Funktionszustand des Autonomen Nervensystemen, der evolutionär für die Bewältigung unterschiedlicher Situationen entstanden ist:

  1. Zustand der sozialen Verbundenheit:
    Fühlen wir uns sicher, wird der ventrale Vagus und unser Social Engagement System (SES) aktiviert: Unser Organismus ist dann optimal darauf eingestellt, in Beziehung und Verbindung zu gehen.
  2. Aktivierung für Kampf oder Flucht:
    Fühlen wir uns bedroht, wird der Sympathikus aktiviert. Dieser sorgt für die notwendige Mobilisierung für Kampf oder Flucht, z.B. durch Erhöhung des Herzschlags und Ausschüttung von Hormonen wie Adrenalin zur schnellen Bereitstellung von Energie.
  3. Freeze und Dissoziation:
    Fühlen wir uns bedroht und hilflos, wird der dorsale Vagus aktiviert. Dieser schickt unseren Körper in einen Zustand der Immobilisierung und Dissoziation. Indem alle Aktivitäten unseres Organismus auf ein Minimum zurückgefahren werden und wir uns von von unseren Gefühlen und unserer Körperwahrnehmung abschneiden, stellen wir uns tot. Evolutionär ermöglichte dieser Zustand Beutetieren, einen lebensbedrohlichen Angriff eventuell doch noch zu überleben.

2. Das „Social Engagement System“:
Ein System für soziale Verbundenheit

Das Social Engagement System (SES), welches durch den ventralen Vagus aktiviert wird, stellt den Organismus darauf ein, in Beziehung zu sich und andere zu gehen. Beispielsweise ist es mit den Gesichtsnerven für die Mimik verknüpft oder mit dem Gehör: Hohe, freundliche Töne, wie z.B. fröhliche Stimmen, aktiveren es und werden gleichzeitig in diesem Zustand besser wahrgenommen. Tatsächlich stellen sich die Gehörknöchelchen im Zustand des Social Engagements für die Wahrnehmung von hohen Tönen ein, während wir im Zustand der sympathischen Mobilisierung tiefes Brummen, wie von Raubtieren, besser wahrnehmen.

3. Die Neurozeption:
Autonomes Scannen von Anzeichen für Sicherheit oder Gefahr

Die Polyvagal-Theorie ist deshalb so relevant für unser Erleben, für Beziehungen, unsere Entwicklung und unser Wohlbefinden, weil unser Autonomenes Nervensystem permanent unsere Umgebung auf Anzeichen von Sicherheit oder Gefahr scannt.

Und zwar ist scannt die Neurozeption unsere Umgebung:

  • in 200 Millisekunden,
  • ganz ohne unser willentliches Zutun, also „autonom“,
  • und ganz ohne dass wir die Situation bewusst wahrnehmen.

Entscheidend für die Einschätzung von Sicherheit und Gefahr durch unser Autonomes Nervensystem ist dabei unsere subjektive Erfahrung: Signale, die wir aufgrund unserer biografischen Erfahrungen mit Gefahr verbinden, aktivieren unseren Sympathikus oder lassen uns sogar erstarren. Signale, die wir aufgrund unserer persönlichen Lebenserfahrung mit Sicherheit und Geborgenheit verbinden, aktivieren unser System für soziale Interaktion (SES).

Unser Nervensystem scannt dabei beständig sowohl die äußere Umwelt einschließlich unserer sozialen Beziehungen, als auch unsere inneren körperlichen Signale (z.B. Anspannung, Herzschlag, Verdauung, etc.) auf Hinweise von Sicherheit oder Gefahr.

4. Wechselwirkungen und Co-Regulation:
Wir sind immer mit unserer Umwelt verbunden

Über die Neurozeption sind wir also beständig mit unserer (sozialen) Umwelt in Kontakt. Kein Wunder, dass wir so empfindlich auf soziale Signale reagieren und es genießen, wenn wir in Beziehungen akzeptiert und in Resonanz sind. Dann fühlen wir uns so sicher, dass wir uns öffnen und uns trauen und zugestehen, unsere eigenen Bedürfnisse und Impulse zu artikulieren. In einer guten Beziehung gehen wir so auch mehr mit uns selbst in Kontakt, was in der Folge wiederum zu einem offeneren und authentischen Kontakt mit Anderen führt.

Über die Neurozeption stehen wir mit unserer sozialen Umwelt in enger Wechselwirkung – im Guten wie im Schlechten – und reagieren sensibel auf Veränderungen in unserem Beziehungssystemen. Dies ermöglicht aber auch in Aufstellungen und generell Coaching, Beratung und Therapie ein direktes Einwirken über die Beziehungsgestaltung und über die Co-Regulation durch unseren eigenen autonomen Zustand als BeraterIn.

Denn sind wir als BeraterIn in einem Zustand der Anspannung, dann entgeht dies nicht der Neurozeption unseres Gegenübers: Haben wir z.B. Angst oder Erstarren wir innerlich, weil unser Gegenüber von traumatischen Erfahrungen erzählt, signalisiert unser ganzer Organismus über seinen autonomen Zustand auch unserem Gegenüber, dass Gefahr besteht.

Wir sind wie eine Schar Erdmännchen (unsere bevorzugte Metapher bei Lösungsbilder für uns Menschen als soziale Lebewesen) miteinander über unseren autonomen Zustand verbunden oder systemisch gesprochen: Unsere autonomen Nervensysteme sind verkoppelt und in ständiger Wechselwirkung – ganz ohne unser bewusstes, psychisches Erleben. Wittert einer aus der Gruppe Gefahr, überträgt sich dies auf die anderen im System – gleich ob die Gefahr nun objektiv real ist oder nicht. Es reicht, wenn sie eine erlebte soziale Wirklichkeit hat.

Beständig regulieren sich unsere autonomen Zustände also gegenseitig und ganz ohne unser willkürliches und bewusstes Zutun. Allerdings können wir uns dieser Zustände und ihrer Veränderungen durch (Selbst-)Wahrnehmungsschulung bewusster werden und über Selbstregulation beeinflussen. Denn auch wenn unser ANS weitestgehend unwillkürlich funktioniert, ist es möglich indirekt Einfluss auf seinen Zustand zu nehmen:

Beispielsweise beruhigen wir uns über unsere Atmung oder kommen in der Kommunikation in einen gemeinsamen Flow und eine gute Stimmung. Oder wenn wir aktiv an positive Erinnerungen denken oder uns mit Ressourcen verbinden, geht unser Autonomes Nervensystem in den entsprechenden Zustand.

Hier deutet sich schon an, dass die Polyvagal-Theorie für die Aufstellungsarbeit, wie aber auch überhaupt für die Arbeit mit Menschen und Gruppen, eine hohe Relevanz hat, weil es Co-Regulation und ihre Wirkungsweise auf unseren Organismus erklären kann.

Folgen aus der Polyvagal-Theorie für unser Selbstverständnis: Mehr Mitgefühl für uns und andere

Eine direkte Konsequenz des Wissens um die Funktionsweise unseres Autonomes Nervensystem und seinen Einfluss auf unser Erleben ist, dass wir uns und andere besser verstehen lernen: Denn in den wenigsten Situationen entscheiden wir bewusst, in welchen Zustand unser Autonomes Nervensystem geht, sondern dies entscheidet quasi autonom durch die Neurozeption, ob eine Situation uns erstarren, feindlich oder freundlich reagieren lässt.

Dieses Verständnis unseres eigenen evolutionär gewachsenen autonomen Nervensystems lässt uns Mitgefühl für uns selbst aufbringen, wenn wir in die Vermeidung (Flucht) oder Erstarrung gegangen sind, wo wir uns eigentlich mutiges Handeln von uns gewünscht hätten.

Und auch die feindlichen oder abweisenden Reaktionen anderer können wir so in anderem Licht sehen: Als autonome und auf der Basis ihrer subjektiven Erfahrungen weise Reaktionen ihres Organismus: Der Versuch ihres ANS, Schutz, Wachstum und Entwicklung zu sichern.

In dieser Weise ist die Polyvagal-Theorie so etwas wie die vierte Kränkung der Menschheit nach Freud: Wir sind nicht nur nicht Herr in der eigenen Psyche, sondern auch nicht Herr im eigenen Körper. In der Psyche regiert im Verborgenen das Unbewusste, im Körper regiert, verdeckt unser autonomes Nervensystem mit seinen drei autonomen Zuständen.

Anwendung für Therapie und Beratung:
Die Polyvagale Ampel und die Polyvagale Leiter

Deb Dana hat auf der Basis der Polyvagal-Theorie praktische Tools für die Beratung und Therapie entwickelt, die sich auch in der Aufstellungsarbeit nutzen lassen.

Das Beitragsbild deutet gleich zwei dieser Tools an: Die autonome Leiter und die Ampel. Beide unterstützen KundInnen darin, sich selbst bzw. ihr Autonomes Nervensystem besser kennenzulernen und in der Folge bewusster mit sich umzugehen und eventuell auch selbst ihren autonomen Zustand regulieren zu lernen.

Natürlich eignen sich beide Modelle auch als Orientierung für die Leitung von Aufstellungen oder sogar als Schema für Aufstellungen bzw. Arbeit mit Bodenankern in der Einzelarbeit: Wo stehe ich und wo stehen die anderen gerade auf der Ampel oder der Leiter? Was braucht es, um auf Grün zu kommen, in den Zustand der sozialen Verbundenheit?

  • Die Polyvagale Ampel visualisiert die drei Zustände des Autonomen Nervensystems mit den bekannten Ampelfarben. Bei Grün sind wir in einem für Beziehungsgestaltung optimalen Zustand, bei Organge erleben wir die Welt als tendenziell feindlich und bei Rot schalten wir aus und spalten uns von unserem Erleben ab.
  • Die Polyvagale Leiter veranschaulicht, dass wir aus dem roten Zustand der Immobilisierung nicht sofort in den grünen Zustand springen können, sondern dass der Weg zwischen diesen beiden immer über den orangenen Zustand der Mobilisierung verläuft. Das ist wichtig, wenn man mit Traumatisierungen arbeitet, da hier die Energie (Aktivierung) eingefroren ist.

    Bei einem Auftauen wird diese Energie aber wieder frei in Form von Erregung und mitunter Wut. Dies überfordert das Nervensystem tendenziell und deshalb ist ein dosiertes Auftauen hilfreich. Dazu hat z.B. der traumatherapeutische Ansatz des Somatic Experience eigene Vorgehensweisen, wie das Titrieren, ein dosiertes Auftauen aus der traumatischen Erstarrung, entwickelt.

Konsequenzen für systemische Aufstellungsarbeit

Die „Polyvagale Brille" aufziehen: 
Aufstellungsprozesse als Modulationen der autonomen Zustände der Personen und des Systems begreifen lernen

Die von der Polyvagal-Theorie beschriebenen Zusammenhänge haben vielfache Konsequenzen für unsere Arbeit als systemische AufstellerInnen. Sie geben uns Orientierung, eröffnen uns Handlungsoptionen und erlauben die Beziehungen und den Rahmen stimmiger zu gestalten.

In der Aufstellungsarbeit geht es oft um das Lösen von Blockaden und das Wiederherstellen von Verbindungen – sowohl zu sich selbst als auch zu anderen. Dafür ist es wesentlich, dass sich alle Beteiligten – allen voran natürlich KlientIn und Leitung – in einem Zustand von Sicherheit und damit Verbundenheit befinden bzw. kontinuierlich in ihn eingeladen werden. In diesem Zustand nämlich haben wir, wie im Absatz zum Social Engagement System beschrieben, Zugang zu unseren zentralen Ressourcen für Veränderung, Wachstum und psychophysisches Wohlbefinden.

Damit gibt die Polyvagal-Theorie zunächst eine grundlegende Orientierung vor: Was brauchen unsere Klienten, wir und das System, um das es geht, um in den Zustand der sozialen Verbundenheit (SES) zu gelangen?

Die Antwort liefert die Theorie gleich mit, denn unser ANS aktiviert diesen transformativen Zustand genau dann, wenn es die Situation als sicher eingestuft. Nun ist die Bedeutung von Sicherheit in Traumatherapie wie auch in Beratung, Coaching sowie der Aufstellungsarbeit als zentrale Basis für Heilung und Entwicklung hinlänglich bekannt.

Sicherheit betrifft dabei verschiedene Ebenen:

  • Physische Sicherheit – ein sicherer Ort, keine körperliche Bedrohung,
  • Emotionale Sicherheit – eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung,
  • Psychologische Sicherheit – die Möglichkeit, über Belastungen und insbesondere Trauma zu sprechen, ohne überwältigt zu werden.

Noch grundlegender nähert man sich dem Thema Sicherheit über die Bedürfnisse, welche für das Autonome Nervensystem erfüllt sein müssen, damit es eine Situation als sicher einschätzt und in den Zustand der sozialen Verbundenheit (SES) schaltet.

Diese „dreifache Sicherheit“ besteht in:

  1. Wahlfreiheit (Autonomie)
    – Wir können mitgestalten, sind nicht gezwungen oder gar gefangen; wir können notfalls fliehen.
  2. Orientierung (Wissen)
    – Wir verstehen und wissen wo wir in Raum und Zeit sind, was uns erwartet und wie die Situation ist. Wir haben eine hilfreiche „Karte“ von unserer Welt. Wir wissen, wo wir unsere Bedürfnisse stillen können und wo Gefahren lauern.
  3. Beziehung (Vertrauen)
    – Wir vertrauen den Menschen in unserem System, dass sie uns gut gesinnt sind, zu uns halten und uns unterstützen.

Diese drei Sicherheitsbedürfnisse bilden visualisiert als gleichschenkliges Dreieck sozusagen den sicheren Rahmen, innerhalb dem sich Beratungsprozesse wie auch Aufstellungen optimal entfalten können.

Dieses Dreieck der Sicherheitsbedürfnisse eignet sich aber auch als Ordnungsschema für eine Sammlung von Learnings aus der Polyvagal-Theorie für die Aufstellungsarbeit. Die unten stehende Visualisierung gibt einen Überblick über diese – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. In den folgenden Abschnitten werden diese Punkte dann erläutert.

 

1. Die “Polyvagale Brille”

Betrachten wir eine Beratung und insbesondere einen Aufstellungsprozess durch die Brille der Konzepte und Zusammenhäng der Polyvagal-Theorie, durch die “Polyvagale Brille”, dann erkennen wir

  • die autonomen Zustände an ihren Merkmalen
  • Zustandsänderungen im Prozess, z.B. als Reaktion auf Interventionen.

Die polyvagale Brille hilft, feine Anzeichen von Stress, Dissoziation oder sozialer Verbundenheit schneller zu erkennen und gezielt darauf zu reagieren. Die Polyvagale Brille nutzen bedeutet für die Leitung also, dass sie fortlaufend darauf achtet, in welchen Zuständen sich die Klienten, sie selbst als Leitung, die Stellvertreter und die gesamte Gruppe befinden und dass sie Veränderungen in den Zuständen beobachtet oder sogar anregt.

Beispielsweise kann beobachtet werden, ob ein Stellvertreter erstarrt, Blickkontakt meidet oder die Atmung flacher wird – alles Anzeichen dafür, dass das Nervensystem in einen dysregulierten Zustand rutscht. Die Leitung kann dann bewusst regulierende Maßnahmen ergreifen, um das Social Engagement System zu reaktivieren.

Diese Perspektive verändert auch die Art und Weise, wie Interventionen in der Aufstellungsarbeit eingesetzt werden: Die Polyvagale Brille erlaubt Leitungen gezielt das ANS adressierende Interventionen zu wählen.

Das bedeutet beispielsweise:

  • mehr Aufmerksamkeit für Mimik, Haltung und Atmung der Teilnehmenden,
  • bewusstes Einsetzen von Blickkontakt, langsamer Sprache und sanften Bewegungen zur Regulation,
  • gezieltes Einladen in den Zustand der sozialen Verbundenheit (SES) durch Herstellen von Sicherheit,
  • Nutzen von Bewegungsimpulsen, um Erstarrung zu lösen.

Die folgende tabellarische Übersicht stellt psychische, körperliche und kommunikative Merkmale dar, die helfen, zu erkennen, in welchen autonomen Zustand sich eine Person befindet:

2. Der Polyvagale Kompass: “Ermögliche Verbundenheit”

In Weiterbildungen in systemischer Aufstellungsarbeit werden wir immer wieder gefragt, woran man sich als LeiterIn auf der Suche nach einem Lösungsbild orientieren soll – gerade wenn die Aufstellung stockt oder viel gleichzeitig geschieht.

Eine erste Orientierung ist natürlich immer der Auftrag, den man im Vorgespräch geklärt haben sollte. Eine zweite grundlegende bietet die Polyvagal-Theorie an: Den Klient und sein System soweit möglich wieder in den Zustand der sozialen Verbundenheit (SES) bringen. In diesem Zustand ist der Klient wieder in der Lage, seine Beziehungen und Herausforderungen selbst zu regulieren, d.h. Lösungen zu finden.

In diesem Sinne sind wir als Aufstellungsleiter eher Ermöglicher, Hebamme oder neudeutsch “Facilitator”: Bieten und halten wir den entsprechenden Rahmen, dann bringen wir die Klienten und ihr System wieder in Kontakt zu sich und ihren Ressourcen. Der Rest läuft dann häufig von selbst.

Der Polyvagale Kompass stellt damit dem Metaprinzip der Aufstellungsarbeit: “Annehmen, was ist.” als zweites Prinzip: “Ermögliche Verbundenheit” zur Seite. Dies gilt sowohl in Bezug auf sich selbst (Körper, Emotionen, Erinnerungen und Gedanken, Handlungsimpulse) als auch in Bezug auf die äußeren Beziehungen.

Handelt es sich um (teilweise) traumatisierte Systeme, d.h. um den Zustand der Immobilisierung und Dissoziation, so muss man beachten, dass der Weg zur Sozialen Verbundenheit (SES) der Leiter (siehe Kapitel “Anwendung für Therapie und Beratung) entsprechend nur Sprosse für Sprosse erklommen werden kann, d.h. über die Mobilisierung führt, die behutsam und dosiert begleitet werden muss, um eine Überaktivierung und erneute Kollabierung des ANS zu vermeiden.

Hier hilft Erfahrung in der Traumatherapie, z.B. Somatic Experience, ein behutsames und Zeit gebendes Vorgehen, das Herstellen von Sicherheit und ausreichendes unterstützendes Ressourcieren.

Interventionen hierzu finden sich auch im unten stehenden Kapitel Interventionen.

3. Rahmen der 3-fachen Sicherheit

Damit direkt verbunden ist die folgende Konsequenz für BeraterInnen und Aufstellungsleitungen: Eine der ersten und grundlegenden Aufgaben in Aufstellungen ist das Herstellen eines sicheren Rahmens. Dieser lädt die Klienten und alle Beteiligten ein, mit sich in Verbindung zu gehen und sich zu öffnen und zu zeigen.

Die Polyvagal-Theorie verweist auf die Auswirkungen von Sicherheit bzw. fehlender Sicherheit: Über die Neurozeption (s.o.) scannen wir beständig unsere Körperreaktionen und unsere Umgebung. Signalisieren diese Sicherheit, aktiviert unser ANS den ressourcenvollen und transformativen Zustand des Social Engagement Systems (SES); signalisieren sie gefahr, aktiviert es den Sympathikus oder lässt uns erstarren.


Deshalb sollte eine Aufstellung bzw. die ganze Aufstellungsveranstaltung durchgängig innerhalb des Dreiecks der drei Sicherheitsbedürfnisse (s.o.) stattfinden, d.h.

  1. gute Beziehungen gestalten– Die Klienten und Stellvertreter sollten sich in einer wertschätzenden, vertrauensvollen und unterstützenden Umgebung aufgehoben fühlen. Dies geschieht durch eine präsente, achtsame Leitung, die durch Mimik, Stimme und Körpersprache Sicherheit implizit signalisiert und Vertraulichkeit explizit zusichert und verabredet.
  2. klare Orientierung bieten– Menschen benötigen klare Strukturen und vorhersehbare Abläufe, um sich sicher zu fühlen. In der Aufstellungsarbeit bedeutet das, dass die Teilnehmenden genau wissen, wie eine Aufstellung abläuft, wann Pausen sind und welche Optionen sie haben.
  3. angemessene Wahlfreiheit ermöglichen– Die Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen, stärkt das Gefühl von Sicherheit. In Aufstellungen kann dies bedeuten, dass Teilnehmende jederzeit Nein sagen oder eine Pause einlegen dürfen, wenn es ihnen zu viel wird.

Wenn Klienten wissen, dass sie jederzeit Einfluss auf den Prozess nehmen können, in vertraulicher und geschützter Beziehung sind und Orientierung über Raum und Zeit haben, sind sie eher bereit, sich zu öffnen und neue Erfahrungen zuzulassen.

Die Orientierung über Raum und Zeit (wie auch die Wahlfreiheit) umfasst dabei auch das Aufstellungserleben selbst, d.h. die oben erwähnte psychologische Sicherheit: Indem wir unsere Klienten unterstützen, Nähe und Distanz zu belastenden Erlebnissen zu regulieren, ermächtigen wir unsere Klienten, sich aus sicherer, ressourcierter Position und Abstand, schwere Episoden aus ihrer Geschichte anzuschauen und sie neu zu verarbeiten.

Und indem wir immer wieder deutlich machen, was Gegenwart und Vergangenheit ist, lösen wir zeitliche Vermischungen im Erleben auf, so dass die Schmerzen der Vergangenheit aktuelle Beziehungen weniger trüben.

4. Polyvagale Empathie

Den Begriff Polyvagale Empathie nutze ich als Erinnerungsanker an das schon oben beschriebene Mitgefühl mit sich und anderen, welches aus dem Verständnis der Polyvagal-Theorie erwächst:

Nicht wir entscheiden uns bewusst, in welchen autonomen Zustand wir gehen, sondern unser ANS aktiviert die aufgrund seiner Lernerfahrung passenden autonomen Zustände zu unserem Besten (Schutz, Regeneration, Entwicklung, Kooperation).

Damit ist keinesfalls gemeint, dass wir Opfer unseres ANS sind und hilflos erleben müssen, wie unser ANS uns regiert. Vielmehr ist es eine Einladung, sein Autonomes Nervensystem und die entsprechenden Zustände bewusst kennenzulernen und mit seinem ANS in eine optimale zielführende Kooperation, also eine unserer autonomen Plattform entsprechenden Selbststeuerung zu gehen.

Leider lag halt die Gebrauchsanweisung für unser ANS bei unserer Geburt nicht bei und auch in der Schule wird uns dieses Wissen bislang nicht gelehrt.

5. Autonome Zustände als Ressourcen sehen: Impathie

Eng verbunden mit der Polyvagalen Empathie/ Impathie ist, unsere autonomen Zustände als Ressourcen zu sehen und unser ANS als Verbündeten: Jeder autonome Zustand hat evolutionär unsere Bandbreite an Handlungsmöglichkeiten erweitert und ist ursprünglich funktional. Erst wenn aufgrund von biografischen Erfahrungen Umweltreize zu Triggern werden, die uns ohne tatsächliche Gefahr mobilisieren oder erstarren lassen, werden die Reaktionen des ANS für uns situativ dysfunktional.

Daraus folgt einerseits Wertschätzung und Dankbarkeit für unser ANS und seine Aktivierungen, auch wenn wir manches Mal Schweißausbrüche, Angst oder Erstarren als hinderlich und problematisch erleben und unser Nervensystem verfluchen möchten.

Andererseits ermöglicht es der Leitung das Potential der verschiedenen Zustände aktiv zu nutzen. Zwar ist häufig der Zustand des Social Engagement Systems für unsere Zwecke zieldienliche, aber nicht selten braucht es eben auch Mobilisierung, um klare Grenzen zu setzen, Eigenes zu verteidigen und Fremdes auszugrenzen, also “Impathie” im Sinne von Wertschätzung, Schutz und Abgrenzung des Eigenen gegenüber Fremden.

6. Co-Regulation und Haltung


“Man kann nicht nicht Co-Regulieren”

Im systemischen Ansatz wie auch in der Aufstellungsarbeit räumen wir mit recht systemischen Haltungen besonderen Raum ein. Haltungen sind nach Aristoteles eingeübte Gewohnheiten des Verhaltens, z.B. Haltungen der Wertschätzung, Offenheit, Verbundenheit, Nicht-Wissen. Durch solcherlei Haltungen laden wir unsere Klienten und Gruppen, die wir begleiten, ein, entsprechende Sichtweisen und Verhaltensweisen selbst anzunehmen.

Co-Regulation funktioniert ähnlich, bezieht sich aber auf die autonomen Zustände, mit denen, wie im Absatz über das Social Engagement System dargestellt, auch bestimmte Erlebnis- und Verhaltensweisen verbunden sind.

Es bedeutet, dass wir über die Selbst-Regulation unseres eigenen Nervensystems das ANS unseres Gegenüber bzw. unserer Beziehungspartner implizit dazu anregen, selbst in den entsprechenden autonomen Zustand zu gehen.

Somit ist Co-Regulation eine Kommunikation auf der Ebene des ANS. Und sie findet ständig statt, nur meist nicht bewusst. Dementsprechend gilt auch für das ANS Watzlwicks zentrale Erkenntnis über Kommunikation: “Man kann nicht nicht kommunizieren”. Unsere Neurozeption erfasst beständig und blitzschnell die autonomen Zustände der Personen um uns herum und stellt sich durch Aktivierung des passenden autonomen Zustandes darauf ein.

Ein echtes Lächeln, ein entspannter Tonfall, offene Blicke laden unser Nervensystem in den Zustand sozialer Verbundenheit ein, während angespannte Schultern, hektische Bewegungen, scharfer Tonfall, verengte Augen tendenziell unsere Mobilisierung hochfahren und unser ANS alarmieren.

Und je nachdem, von was für Erlebnissen unsere Klienten erzählen, rutschen sie in das entsprechende Erleben hinein und ihr ANS reagiert mit dem entsprechenden Zustand. Dies wiederum wirkt als starke Einladung auf unser eigenes ANS.

Sich dieser Zusammenhänge bewusst zu werden und darüber hinaus über die Selbstregulation des ANS Optionen in der Hand zu haben, sich selbst im gewünschten Zustand, meist dem der Verbundenheit, zu halten, ist eine zentrale Aufgabe in der Beratung, wie in Aufstellungen.

Wie schließlich können wir andere dabei unterstützen, Lösungen zu finden und wieder in den Zustand der Verbundenheit zu kommen, wenn wir selbst dies nicht sind?

7. Selbstregulation und Resilienz

Zum Glück vermögen wir mit etwas Übung und zunehmenden Gewahrsein unserer eigenen autonomen Zustände, diese in einigem Umfang selbst zu regulieren. Wir können also lernen situationsangemessen und letztlich stressresistent oder resilient mit herausfordernden Situationen auch auf der Ebene des Autonomen Nervensystems, d.h. unseren unwillkürlichen autonomen Reaktionen umzugehen.

Dann erleben wir Sicherheit auch darin, dass wir unseren eigenen autonomen Zustand (wieder) regulieren können, statt ihm ausgeliefert zu sein. Dann können wir Herausforderungen wieder souverän bewältigen. Dies gilt nicht nur für Konflikte, sondern auch für unseren Alltag, Stress und eben die Beratung oder Leitung von Einzelnen und Gruppen:

Sind wir übererregt (sympathische Aktivierung), so können wir uns nicht mit einer Aufgabe beschäftigen, sondern switchen nervös zwischen verschiedenen Tätigkeiten und Zielen oder gehen in die Vermeidung (Flucht). Sind wir erstarrt und von unseren Emotionen und unserer Körperwahrnehmung abgeschnitten (Freeze), können wir Herausforderungen gar nicht mehr anpacken.

Wir brauchen also auch für die Herausforderungen der Arbeit, des Alltags und Entwicklungsvorhaben einen ruhigen, fokussierten Zustand, um sie strukturiert und gezielt anzupacken und zum Erfolg zu führen.

Wie aber können wir regulierend auf unser doch angeblich “autonomes” Nervensystem einwirken? Es gibt eine Vielzahl von indirekten Möglichkeiten auf unser autonomes Nervensystem aktivierend oder beruhigend einzuwirken.
Viele davon nutzen wir intuitiv oder kulturell-ritualisiert, z.B. gemeinsames Singen, Herstellen von Blickkontakt, tiefe Ausatmung. Sie alle können aber bewusst in Beratungs- und Gruppensituatinen zur Selbst- und dann mittelbar zur Co-Regulation eingesetzt werden – so auch in Aufstellungen.

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über einige gängige Selbstregulationsmechanismen. Sie alle können natürlich durch vorgestellte innere Bilder oder auch äußere Raumgestaltung aktiviert angeregt werden.

Ein besonders anschauliches Beispiel sind Feststellungen der Aufmerksamkeits-Erholungs-Theorie, bei denen herausgefunden wurde, dass sogar das Betrachten von Bildern eines Waldes in einem Fotoband eine ähnlich erholsam-beruhigend Wirkung hat, wie ein echter Waldspaziergang (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Aufmerksamkeits-Erholungs-Theorie).

Selbstregulation

Erläuterung

Ziel

Autonomer Zustand

Bewegung und Rhythmus

Rhythmische Bewegungen wie Gehen, Tanzen oder Schaukeln helfen, das Nervensystem zu regulieren.

Herstellung von Regulation durch Bewegung

Sympathikus (Aktivierung mit Regulation)

Laute (Tönen, Schreien)

Durch lautes Tönen oder Schreien kann angestaute Energie abgebaut werden, was das Nervensystem reguliert.

Regulation durch Ausdruck und Energieabbau

Sympathikus (Energieabbau & Regulation)

Beruhigende Selbstberührung

Sanftes Streicheln der Arme oder Halten des eigenen Körpers vermittelt Sicherheit.

Selbstberuhigung durch taktile Reize

Ventraler Vagus (Beruhigung & Sicherheit)

Naturerfahrung

Zeit in der Natur zu verbringen, beruhigt das Nervensystem und reduziert Stress.

Reduktion von Stress durch Umweltreize

Ventraler Vagus (Beruhigung durch Umwelt)

Musik hören oder machen

Musik kann je nach Art beruhigend oder aktivierend wirken und das autonome Nervensystem beeinflussen.

Modulation des autonomen Nervensystems je nach Musikstil

Ventraler Vagus (Beruhigung oder Aktivierung)

Sicherer sozialer Kontakt

Gespräche oder sanfte Berührungen mit vertrauten Personen fördern Co-Regulation.

Soziale Unterstützung nutzen

Ventraler Vagus (Co-Regulation)

Ressourcenorientierung

Sich auf positive Erinnerungen oder unterstützende Personen fokussieren.

Stärkung von positiven emotionalen Zuständen

Ventraler Vagus (Positive Emotionen)

Vokalisierung (Singen, Summen)

Summen oder Singen stimuliert den Vagusnerv und fördert Beruhigung.

Direkte Aktivierung des parasympathischen Systems

Ventraler Vagus (Selbstregulation)

Achtsamkeitsübungen

Achtsames Wahrnehmen des eigenen Körpers und der Umgebung fördert Selbstregulation.

Förderung der Selbstwahrnehmung und Erdung

Ventraler Vagus (Selbstwahrnehmung)

Warme Getränke oder Essen

Warme Getränke oder Speisen können ein Gefühl der Sicherheit und Erdung vermitteln.

Stimulation von Wohlgefühl und Sicherheit

Ventraler Vagus (Sicherheit & Wohlgefühl)

Bewusstes Atmen

Langsame, tiefe Atmung aktiviert den ventralen Vagus und beruhigt das Nervensystem.

Aktivierung des ventralen Vagus zur Beruhigung

Ventraler Vagus (Soziales Engagement)

Blickkontakt mit einer vertrauten Person

Augenkontakt mit einer sicheren Person kann das Social Engagement System aktivieren.

Förderung des sozialen Engagements

Ventraler Vagus (Soziales Engagement)

8. Aufstellungen als Trainingsraum für Selbstregulation und Verbundenheit

Beziehungen und Beziehungbilder regulieren unser Autonomes Nervensystem.

Es braucht viel Übung, um seinen autonomen Zustand selbst zu erkennen und willentlich durch indirekte Maßnahmen zu beeinflussen, sich z.B. selbst vor Auftritten zu beruhigen, Vermeidungstendenzen zu begegnen oder sich aus einer Starre zu lösen.

Aufstellungen – gerade in der Gruppe – sind ein wunderbarer Lernort und ein Trainingsfeld für Verbundenheit zu anderen und zu sich selbst bzw. die Regulation unseres ANS in den entsprechenden Zustand (SES).

Denn der einfachere und natürlichere Zugang zur Regulation unseres autonomen Zustandes verläuft über Beziehungen bzw. Beziehungserfahrungen. Dies sind ja gerade die Erfahrungen, für die sich unser Autonomes Nervensystem so entwickelt hat. Wenn wir lernen, unsere Beziehungen und unsere inneren Bilder von unseren Beziehungen sowie unsere Selbstbeziehung (Beziehung zu inneren Anteilen inklusive unserem Selbst) zu gestalten, lernen wir gleichzeitig uns selbst zu regulieren.

Diesen Weg beschreiten Aufstellungen, indem sie mit Beziehungskonstellationen arbeiten und diese bzw. die inneren Bildern von ihnen verändern: Über diese bzw. deren Struktur und unseren Platz und unsere Bezogenheit in einer Konstellation regulieren sie auch immer unser Nervensystem.

Ein sehr simples Beispiel ist eine Konfrontation: Erleben wir jemanden uns frontal gegenüber wie im Duell, ist dies entweder eine sehr intime oder eine konfrontative Situation: In jedem Fall sind wir in direktem Kontakt.

Erleben wir jemanden hinter uns, wirkt dies – je nachdem, ob wir diese Person als Freund oder Feind ansehen – als Bedrohung oder Unterstützung.

Dabei haben solche verinnerlichten Beziehungsbilder auch nach der eigentlichen Begegnung eine Nachwirkung in unserer Psyche – allein aufgrund ihrer Anordnung.

Eine Form der Regulation ist also eine Umstellung und Neuanordnung dieser Beziehungskonstellationen: Eine typische Intervention in Aufstellungen.

Schauen wir also mit beispielsweise mit unserem Chef statt Auge in Auge Seite an Seite – gleichsam als Team – auf das gemeinsame Ziel, so verändert sich sofort das innere Erleben der Situation: Der tendenzielle Charakter der Konfrontation schwindet und verwandelt sich in ein Gefühl von Unterstützung und Teamgeist.

Hier sind Aufstellungen vom Setting her ideal geeignet – wenn sie mit einer entsprechenden respektvollen und wertschätzenden Haltung geleitet werden, denn sie bieten einen Schutzraum, in dem vergangenen bedrohliche oder sogar traumatische Erfahrungen, aus einem sicheren Abstand, dem Außenkreis, in einer haltenden Gruppe und durch die strukturierte und achtsame Begleitung einer – hoffentlich erfahrenen – Leitung angeschaut werden können.

Gerade Aufstellungen in der Gruppe ermöglichen die stärkende Erfahrung der Verbundenheit in der Gruppe und bieten damit eine Differenzerfahrung zu einem als leidvoll erfahrenen, vergangenen Erleben von Ausgrenzung oder Konflikt mit bzw. in einem sozialen System.

Deb Dana und Stephen Proges verweisen entsprechend darauf, dass unser Autonomes Nervensystem beständig mit jeder neuen (sozialen) Erfahrung umlernt und resilienter oder „ängstlicher“ wird bzw. stressresistenter oder empfindlicher wird. Dabei ist die Bedingung dafür, sich etwas ehemals oder künftig Bedrohliches oder sogar Bedrohlich-Überwältigendes anzuschauen, das aktuelle Erleben von (Beziehungs-)Sicherheit.

9. Polyvagale Interventionen

Die Polyvagal-Theorie lässt uns nicht nur die typischen Interventionen in der Aufstellungsarbeit durch die Polyvagale Brille betrachten und nach ihrer Wirkung auf das Autonome Nervensystem fragen.

Sie verweist auch auf weitere Interventionen aus verschiedensten Ansätzen aus Schulen der Therapie und Persönlichkeitsentwicklung, die gezielt genutzt werden können, um bestimmte autonome Zustände zu aktivieren (SES, Mobilisierung) oder aus ihren herauszukommen (Erstarrung).

Teilweise emergieren die entsprechenden Verhaltensweisen auch in Aufstellungen auf ganz natürliche Weise. Sie können in der richtigen Situation aber auch bewusst als eigene Intervention oder als Verstärkung von Interventionen eingesetzt werden.

Ein Beispiel ist die schaukelnde, sich wiegende Bewegung im eigenen Rhythmus, die Stellvertreter als Selbstberuhigung und zur Herstellung von Geborgenheit. Hier können aufmerksame AufstellungsleiterInnen tatsächlich von der Selbstorganisation in Aufstellungen viel lernen.

Die folgende Tabelle zeigt eine Reihe von solchen Interventionen mit dem Zielzustand des Autonomen Nervensystems, welcher durch sie angeregt werden soll. Es ist dabei nicht verwunderlich, dass diese “Interventionen” ähnliche oder analoge Mittel wie die der Selbstregulation nutzen.

Dabei verläuft der Weg meist entsprechend der Polyvagalen Leiter (siehe oben) in Schritten aufwärts hin zum System für soziale Verbundenheit (SES).

In bestimmten Fällen von Symbiose oder Parentifizierung, wenn die Klienten sich für Verbundenheit in Teilen “aufgeben” und zu sehr gelernt haben, auf eigene Bedürfnisse und Impulse zu verzichten und insbesondere mit Wut (Mobilisierung) nicht gut in Kontakt sind, hilft aber gerade auch die Mobilisierung zur Abgrenzung und Ausgrenzung von Introjekten, Glaubenssätzen und übernommenen Fremden.


Hierzu hat Ero Langlotz, dessen Ansatz der SelbstIntegration wir in einem Modul unserer Weiterbildung in systemischer Aufstellungsleitung, eigene hilfreich Vorgehensweisen entwickelt.

Zielzustand

Intervention

Erläuterung

Herkunft der Intervention

Social Engagement System (Ventraler Vagus)

 

Atemübungen

Tiefes, ruhiges Atmen aktiviert den ventralen Vagus und fördert Entspannung.

Achtsamkeit, Atemtherapie, Yoga

 

Sanfte Berührung

Berührungen wie eine Hand auf die Schulter oder eine Umarmung fördern Verbundenheit.

Bindungstheorie, Körpertherapie

 

Augenkontakt

Sanfter, freundlicher Blickkontakt stärkt die soziale Verbindung.

Polyvagal-Theorie, Bindungsforschung

 

Melodische Stimme

Ein warmer, variabler Tonfall kann das Nervensystem beruhigen.

Polyvagal-Theorie, Stimmtherapie

 

Positive soziale Interaktion

Lachen, gemeinsames Singen oder angenehme Gespräche fördern das soziale Engagement.

Sozialpsychologie, Musiktherapie

 

Sichere Umgebung schaffen

Ein geschützter, ruhiger Raum kann Sicherheit vermitteln.

Traumatherapie, Psychotherapie

 

Bewegung im eigenen Rhythmus

Sanfte Bewegungen wie Tanzen oder Schaukeln regulieren das Nervensystem.

Tanztherapie, Körperpsychotherapie

 

Ressourcierung

Erinnerung an sichere, angenehme Erfahrungen stärkt das Gefühl von Sicherheit.

Traumatherapie, systemische Therapie

Mobilisierung (Sympathikus)

 

Schnelle, rhythmische Bewegung

Laufen, Hüpfen oder aktives Tanzen erhöhen die Energie.

Bewegungstherapie, Sportwissenschaft

 

Dynamische Atmung

Schnelles, kraftvolles Atmen (z. B. Feueratem) regt den Körper an.

Pranayama, Atemtechniken

 

Laute Stimme

Laute Rufe oder Töne (z. B. Singen, Schreien in ein Kissen) aktivieren den Sympathikus.

Stimmarbeit, Körpertherapie

 

Kaltwasserreiz

Kaltes Wasser im Gesicht oder eine kalte Dusche aktiviert den Körper.

Wim-Hof-Methode, Physiologie

 

Mentale Fokussierung

Klares Zielsetzen oder Visualisieren von Energie kann aktivieren.

Sportpsychologie, Mentaltraining

 

Starkes Körperfeedback

Springen, Klatschen oder Stampfen helfen, Energie aufzubauen.

Körpertherapie, Tanztherapie

 

Kraftvolle Musik

Schnelle, rhythmische Musik kann den Körper in einen aktivierten Zustand versetzen.

Musiktherapie, Neurowissenschaften

Lösung aus Erstarrung/ Shutdown (Dorsaler Vagus)

 

Langsame Aktivierung durch Bewegung

Sanfte, rhythmische Bewegungen wie Schaukeln oder Dehnen helfen, aus der Erstarrung herauszukommen.

Körperpsychotherapie, Feldenkrais

 

Bewusste Atmung

Langsame, tiefere Atemzüge unterstützen die Rückkehr in den Körper und erhöhen die Energie.

Atemtherapie, Meditation

 

Sichere Körperberührung

Leichte Berührung durch sich selbst oder eine vertraute Person kann den Körper sanft reaktivieren.

Traumatherapie, Bindungstheorie

 

Wärmereize

Wärmende Decken, ein warmes Bad oder warme Getränke fördern die Durchblutung und helfen, aus der Erstarrung zu kommen.

Somatische Traumatherapie, Polyvagal-Theorie

 

Fokus auf die Umgebung

Langsames Wahrnehmen der Umgebung (Farben, Geräusche, Texturen) hilft, aus Dissoziation zurückzukehren.

Achtsamkeit, Gestalttherapie

 

Sanfte soziale Interaktion

Ein ruhiges, einfühlsames Gespräch ohne Druck fördert das Wiederauftauchen aus der Erstarrung.

Gesprächspsychotherapie, Traumatherapie

 

Leichte Körperaktivierung

Sachte Berührungen, Klopfen oder das Bewegen der Hände und Füße helfen, den Körper zu aktivieren.

Klopftechniken (EFT), Sensorische Integration

 

Stimmliche Aktivierung

Summen oder leises Singen kann helfen, die vagale Aktivität zu verändern und sanfte Energie aufzubauen.

Polyvagal-Theorie, Musiktherapie

10. Das wissenschaftliche Erklärungspotential der Polyvagal-Theorie für die Aufstellungsarbeit

Nicht zuletzt bietet die Polyvagal-Theorie ein hohes Erklärungspotential für viele noch rätselhafte Phänomene der Aufstellungsarbeit.

Bislang entzogen sich die Phänomene der Aufstellungsarbeit auch deshalb häufig einer naturwissenschaftlichen Erklärung, weil für sie eine angemessene naturwissenschaftliche Beschreibung fehlte.

Hier könnte die Polyvagal-Theorie zunächst wichtige sogenannte Brückenprinzipen, d.h. Übersetzungen anbieten, z.B. für den Begriff Feld (Regulation zwischen ANSen) in Aufstellungen oder die Idee der Energie (autonome Aktivierung).

Auch die transgenerationale Weitergabe von Mustern der Aktivierung könnte mit Hilfe der Neurozeption und der Idee der Co-Regulation eventuell in Teilen erklärt werden.

Aufstellungsarbeit zeigt immer wieder beeindruckend, wie wir mit anderen Menschen, aber auch mit Themen, Symptomen, Orten bis hin zu Werten in Wechselwirkungen gehen. Besonders deutlich wird dies daran, dass oft schon kleine Veränderungen in der Ausrichtung sowie Nähe/ Distanz zueinander starke Auswirkungen im System zeigen. Ebenso wirkungsvoll sind Änderungen in der Haltung, z.B. von kritisch-distanziert zu freundlich zugewandt.

Das Konzept der Neurozeption kann hier viel zum Verständnis dieser Wechselwirkungen in sozialen Systemen beitragen: Es bietet eine Erklärung an, wieso wir so schnell und grundlegend auf solcherlei Veränderungen in Beziehungskonstellationen reagieren:

Veränderungen in unseren sozialen Beziehungen können unser Autonomes Nervensystem in einen anderen Zustand gehen lassen und wirken so auf unseren ganzen psychophysischen Organismus: Herz-Kreislauf, Hormonausschüttung, sinnliche Selbst- und Fremdwahrnehmung werden je nach Zustand, wie oben beschrieben, komplett anders eingestellt und ausgerichtet:


„Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.“
(Ludwig Wittgenstein)

stellt schon der Philosoph Ludwig Wittgenstein fest, wie Matthias Varga, der Vater der systemischen Strukturaufstellungen gerne in Bezug auf die unterschiedliche Wahrnehmung der Welt im Lösungsfokus und Problemfokus erinnert.

Durch die Polyvagal-Theorie wird allerdings deutlich, dass es sich hier um weit mehr als nur verschiedene psychische Sichtweisen handelt, nämlich um sehr konkrete, neurobiologisch unterschiedliche Zustände, die über die Neurozeption bzw. unser Autonomes Nervensystem reguliert werden. Oder anders gesagt, dass die Frage, ob wir in einen Problemfokus oder einen Lösungsfokus gehen, oft schon auf Ebene des Autonomen Nervensystems unwillkürlich entschieden wird.

Und da eine der relevantesten Umwelten für uns soziale Lebewesen unsere sozialen Beziehungen sind, ist es kein Wunder, wenn soziale Signale von Sicherheit, Geborgenheit, Anerkennung oder aber Ablehnung, Ausgrenzung, Abwertung so massiv auf unseren Organismus bzw. unser Autonomes Nervensystem wirken.

Sicher lohnt es sich, dieses Erklärungspotential der Polyvagal-Theorie für die Aufstellungsarbeit weiter zu sondieren. Damit verbunden ist schließlich die Hoffnung, einer noch differenzierteren Praxis und einer wissenschaftlichen Akzeptanz der Aufstellungsarbeit.

11. Polyvagale Aufstellungsformate

Abschließend möchte ich Formate vorstellen, welche direkt die Zuständen des autonomen Nervensystems nutzen:

  • Walk the Ladder (WL)
    Das Begehen der Polyvagalen Leiter zum somatischen Erfahren der Unterschiedlichen polyvagalen Zustände und ihrer psychophysischen Auswirkungen.
  • Die Triade der dreifachen Sicherheit
    a) Ein Format, dass die drei Sicherheitsbedürfnisse als starke Ressourcen nutzt und entweder als sicherer Rahmen für herausfordernde Aufstellungsthemen, u.a. Trauma genutzt werden kann (vgl. der Glaubenspolaritäten von SySt) oder

    b) wie die systemische Triade (von G. von Witzleben) zur Bearbeitung von Anliegen, die als Zettel in die Mitte gelegt werden. Die Ähnlichkeit zu dieser Triade (Bauch, Herz, Kopf) ist sehr groß, so dass diese als ergänzende Polyvagale Sicht auf die systemische Triade gesehen werden kann.
  • Polyvagale 3-Felderaufstellung (P3F)
    Die Unterteilung des Aufstellungsraums in drei Felder für die drei autonomen Zustände mit der Mobilisierung in der Mitte (vgl. Leiter), ermöglicht den Stellvertretern sich räumlich zu verorten, in welchem autonomen Zustand sie sich befinden. Ergänzt man neben der Stellvertretung nach und nach, Elemente, z.B., auslösende aktuelle Situation oder Person („Trigger“) und dann passende Ressourcen, lässt sich eine Regulation häufig gezielt begleiten.
  • Aufstellen der SES-Ressource
    Durch das Hinzustellen des Social Engagement Systems des Klienten als starke Ressource, wird nicht nur diese potentiell aktiviert bzw. an diese Möglichkeit erinnert, sondern auch ihr akuteller Zustand im System verkörpert.
  • Aufstellung der drei autonomen Zustände
    Die offenste Herangehensweise ist das Hizustellen der drei autonomen Zustände. Dies lässt die Interaktion zwischen Ihnen besonders deutlich werden. Alle drei Zustände sind dabei Zustände des Klienten bzw. seiner Stellvertretung. Sie lassen sich gut in Kombination mit reduzierten Aufstellungen (Klient – Thema, Klient – Symptom, Klient – Partner oder relevante Person) aufstellen. Bei Paaren bietet es sich an für jeden der Partner deren drei autonome Zustände aufzustellen.

Diese Formate sind bis auf „Walk the Ladder“, die Triade der 3-fachen Sicherheit und das Aufstellen der SES-Ressource vorerst noch experimentelle Formate, der Anwendungsbereich und Passung in Übungsgruppen und Weiterbildungen noch weiter probt werden muss.

Fazit und Ankündigung Aufbaumodul zur Aufstellungsarbeit und Polyvagal-Theorie

Ich hoffe, dass die dargestellten Zusammenhänge von Polyvagal-Theorie und Aufstellungsarbeit deine Sicht als Coach, BeraterIn, Therapeutin, insbesondere aber als AufstellerIn angereichert und differenziert hat und dir neue Handlungsoptionen erschließt.

> Auch 2025 planen wir wieder ein ExtraModul zur Aufstellungsarbeit und Polyvagal-Theorie.
Anfragen und Vormerkungen dazu gerne per Mail.

> Übrigens haben wir auch eine Podcast-Folge zu diesem Thema veröffentlicht, die du unter „Lösungsbilder“ bei den gängen Podcastanbietern findest.

Für Rückmeldung und eigene Erfahrungen sind wir dankbar und freuen uns auf Austausch!

Jan Prisor