Die Entwicklung des Lebensintegrationsprozesses (LIP) nach Wilfried Nelles aus dem klassischen Familienstellen

„Das Leben hat keinen Rückwärtsgang“

„Das Leben hat keinen Rückwärtsgang“ lautet der Titel eines der Bücher von Wilfried Nelles zu seiner eigenen Form der Aufstellungsarbeit. Darin entwickelt er die Gedanken zum LIP, die aus seiner Auseinandersetzung mit der klassischen phänomenologischen Aufstellungsarbeit, wie er sie noch von Hellinger selbst gelernt hat, erwachsen sind.

Einen Teil dieser Entwicklung bekam ich selbst in den Jahren 2007-2009 in seinen Aufstellungsworkshops mit, in denen er immer wieder kleine Vorträge einflocht. Zunehmend störte er sich an dem Konzept der „Verstrickung“ und der Lösung aus ihr durch eine Aufstellung sowie z.B. an der Heilung der „unterbrochenen Hinbewegung“ durch ein symbolisches Nachholen dieser Bewegung vom Kind zum Elternteil in einer Aufstellung.

Annehmen, was ist!

Stattdessen sah er die Lösung immer mehr schlicht darin, hinzuschauen und anzunehmen, was ist. Dies geschieht durch eine besondere – nicht alltägliche – Art des Hinschauen: Im Hinschauen mit der phänomenologischen Haltung, d.h. in einer Haltung des Nicht-Wertens, Nicht-Urteilens, ohne Absicht und ohne Furcht. Darin ist er ganz Hellinger treu geblieben. Aber diese phänomenologische Schau selbst sah er nun auch für den/die KlientIn als heilend an. Ohne weitere Lösungsschritte! Alle Interventionen sind nur noch zur Verdeutlichung dar, nicht mehr um ein Lösungsbild zu entwickeln und symbolisch etwas nachzuholen: Die Lösung besteht darin, seine Geschichte und Vergangenheit, sein Leben anzunehmen, wie es ist..


Der erste konkrete Schritt in den sich verändernden Aufstellungen von Nelles war, dass er beispielsweise darauf verzichtete, dass der Stellvertreter für den Sohn zum toten Vater ging und ihn noch einmal umarmte. Stattdessen ließ er ihn nur zum Vater schauen, etwa: „Schau hin. Er musste früh gehen. Er ist tot.“ Und dann ließ er den Stellvertreter umdrehen und die Gegenwart und Zukunft oder das, was dafür stand, z.B. seine Frau oder Kinder ansehen.

Diese Aufstellungen waren oftmals etwas weniger emotional, weil sich eben Vater und Sohn nicht weinend wiedervereint umarmten, aber sie wirkten oftmals tiefer, machten leise nachdenklich und waren für mich stimmig:
Auch so kann man es machen, dachte ich zustimmend.

Das Format des LIP

Der LebensIntegrationsprozess (LIP), den Nelles auf einer Sommerakademie aus einem Experiment heraus entwickelte, wandte dieses Hinschauen oder auch Zurückblicken dann auf die eigene Person des/der Klient*in in ihren verschiedenen Lebensphasen an. Nelles ließ den/die Klienten*in auf sich selbst in einer früheren Lebensphase blicken, wie in einen Spiegel. Den Spiegel stellt dabei so wie in der Aufstellungsarbeit üblich ein Stellvertreter dar. Die beiden standen sich zwei, drei Meter voneinander entfernt gegenüber, gingen in Kontakt, indem sie sich zueinander ausrichteten und in die Augen blickten. „Schau hin, aber bleibt an deinem Platz – im Jetzt, bei dir.“, so ungefähr war die zentrale Anweisung von Nelles. Dann wartete er, was sich ergab: Ein körperliches Zittern der Muskeln oder Emotionen, die bei dem/der Klient*in aufkamen und wieder vergingen – ein Prozess der Integration.

Manchmal wurde gar nichts gesagt, manchmal wenige zentrale Lösungssätze, die Stellvertreter und KlientIn oft selbst fanden. Nelles unterstütze den Prozess, indem er kaum eingriff und ebenfalls bloß wach hinschaute. Falls die Integration länger stockte oder kein Kontakt zustande kam, brach Nelles ab. Falls sie gelang, ging es beim Stellvertreter der nächsten Lebensphase weiter.

Die Lebensphasen bzw. Bewusstseinsstufen im Lebensintegrationsprozess

Nelles unterscheidet sieben Lebensphasen: Kind im Mutterleib, Kindheit, Jugend, Junger Erwachsener, Reifer Erwachsener, Alter und als siebte den Tod. Die Phasen bis zur aktuellen des/r Klient*in lässt er aufstellen. Man beginnt mit der Gegenüberstellung der ersten Phase, dem Kind im Mutterleib.

Diese Phasen leitet er aus einem selbst entwickelten Modell der sieben Bewusstseinsstufen ab, das mit der ursprünglichen Einheit des ungeborenen Babys im Mutterleib beginnt und dann immer größere Einheiten, Kernfamilie, Peergroup, Gesellschaft, bis hin zum Ganzen der Welt umfasst.

Der leitende und aus der klassischen Aufstellungsarbeit bekannte Gedanke dabei ist der der Eigebundenheit oder Zugehörigkeit zu Systemen, und zwar:

  1. zur Mutter im Mutterleib,
  2. zur Familie in der Kindheit,
  3. zum eigenen Ich in Abgrenzung zur Familie in der Jugend,
  4. zur Gesellschaft als junger Erwachsener,
  5. zur weiteren und zukünftigen Gesellschaft als reifer Erwachsener,

und dann zu immer umfassenderen Ganzheiten im Alter und im Tod (Stufe 6 und 7).

Damit es zur Entwicklung von einer zur nächsten Stufe kommt ist dann – zumindest bei den ersten Stufen – auch immer ein Bruch mit der Einheit der jeweiligen Stufe notwendig. Dieser Bruch erzeugt im Rückblick aber auch immer eine Sehnsucht, die Nelles mit der Sehnsucht nach dem Paradies vergleicht. Dieser Sehnsucht werde im Familienstellen oft gefolgt, indem am Ende ein Idealbild der heilen, gut geordneten Familie gestellt würde. Das aber sei eine Illusion. Es gebe eben kein Zurück, kein „Rückwärtsgang“ im Leben, so erläuterte er damals in seinen Seminaren.

Systemkräfte vs. Entfaltung des Bewusstseins 
– eine dialektische Entwicklung

In dieser krisenhaften Entwicklung wirken demnach zwei grundlegende Kräfte auf uns ein: Die der Systeme, in die wir jeweils eingebunden sind einerseits und die des Bewusstseins, das sich entfaltet und das auf Wachstum und Erweiterung zielt andererseits. Das jeweils alte System wird in dieser Bewegung zugunsten eines umfassenderen verlassen und unser Bewusstsein wird von Stufe zu Stufe weiter, bis es in einer AllEinheit – eins mit Gott und dem Ganzen im Tode aufgeht.

Am deutlichsten wird diese dialektische Entwicklung des Bewusstseins in der Pubertät, in der der Jugendliche die Werte, Normen, Ansichten, etc. der Herkunftsfamilie in Frage stellt und so den Sprung hinaus in die Welt vorbereitet. Dazu gehört übrigens auch das schlechte Gewissen, die Eltern zu enttäuschen und ihren Werten, etc. untreu zu werden. Das Gewissen ist ja nach Hellinger eben dafür zuständig: Es meldet sich, wenn wir durch unser Verhalten und Denken Gefahr laufen, die Spielregeln unseres Systems zu verletzen und so unsere Zugehörigkeit zu riskieren. Dementsprechend nennt Hellinger es auch metaphorisch das Gleichgewichtsorgan der Seele.

Uns selbst annehmen – Die lösende Wirkung des LIP!

Diese sich durch die zwei entgegenwirkenden Kräfte sich ergebenden Entwicklungskrisen gehören also notwendig mit zu unserer dialektischen Entwicklung und es stellt sich nur die Frage, ob die Ablösung in den vergangenen Phasen auch gelungen ist. Dies ist es dann auch letztlich, was im LIP „geheilt“ oder nachgeholt werden kann:

Indem wir in einem LIP-Prozess noch einmal zurückschauen, können wir unser Potenzial und unsere Lebenskraft, die ganz natürlich für diese Entfaltung sorgen, erkennen und integrieren. Wir erfahren aber auch unsere Schwierigkeiten und Themen, diese zu leben und frei wirken zu lassen. Wenn wir annehmend hinschauen, ist es uns vielleicht möglich, diesem Reifungsschritt, unserem Potenzial und den damaligen Schwierigkeiten, es zu entfalten, innerlich nachträglich ganz zuzustimmen und so uns selbst zuzustimmen und anzunehmen – gleich, ob wir unser Potenzial auf der damaligen Stufe ganz gelebt haben oder nicht:
Annehmen, was ist! – Annehmen, wer wir sind und waren!

So ist das LIP ein spezielles Aufstellungsformat, das helfen kann, als schwierig erlebte Entwicklungsphasen anzunehmen und unser darin gebundenen Potential zu integrieren.

Ziel ist es dabei letztlich, unser in uns angelegtes Wesen ganz zu entfalten, getreu der berühmten Inschrift über dem Orakel von Delphi:

„Erkenne dich selbst und werde wer du bist!“

Der Lebensintegrationsprozess ist somit eine Methode der Persönlichkeitsentfaltung mit einer spirituellen Komponente – der Idee, dass wir von Beginn an einen festen Wesenskern haben und dass wir am Ende in einer Ganzheit aufgehen.

In seinem eingangs erwähntem Buch „Das Leben hat keinen Rückwärtsgang“ verbindet Wilfried Nelles damit weiterhin unterschiedliche Aspekte der unterschiedlichen Bewusstseinsstufen, wie z.B. das Selbstgefühl, den vorherrschenden Erkenntnismodus, die Art, wie man die Welt deutet. Und getreu seiner akademischen Herkunft als Soziologe überträgt er diese für das Individuum geltenden Aspekte dann auch auf Bewusstseinsstufen von Gesellschaften und ordnet beispielsweise traditionelle Stammesgesellschaften mit ihrer Verhaftung in Mythos und Religion, Überlieferung und Tradition dem Gruppenbewusstsein (Stufe 2: Kindheit) zu. Dies ist zwar spekulativ, aber oftmals sehr plausible und erscheint gut beobachtet.

Meine persönliche Bewertung des LIP als Aufstellungsformats

Wie auch immer man zu Nelles spekulativ-spirituellen Modell der Bewusstseinsstufen stehen mag, ist die Methode, nicht ganz gelungene Entwicklungsphasen rituell in einer Aufstellung anzunehmen und zu integrieren sicher eine wirkungsvolle und oft hilfreiche Intervention. Insbesondere dann, wenn man mit seiner eigenen Entwicklung bzw. Phasen der eigenen Entwicklung unglücklich ist und sich und diese Phasen ab und an nicht recht annehmen will.

Außerdem zeigt das LIP exemplarisch, wie die Integration von Persönlichkeitsanteilen mit der Aufstellungsmethode geht bzw. dass es dafür oft nicht viel mehr braucht, als die Gegenüberstellung und das offene hinschauen und in Kontakt gehen.

Weiterhin ist Nelles Kritik, dass in Aufstellungen zu oft eine idealisierte Lösung, ein Bild des Paradieses erzeugt wird, sicher eine treffende Beobachtung. Gelingt es, dass der/ die Klient*in annimmt, was war – also seinem Leben, so wie es gewesen ist ohne Einschränkung zustimmt, ist das alleine eine sehr wirkungsvolle und heilende Intervention.

Allerdings reicht es für eine Lösung bzw. Heilung nicht aus, lediglich belastende oder traumatische Erfahrungen noch einmal anzuschauen. Es muss auch eine andere Sicht und ein neuer, heilender Bezug dazu gefunden werden.

Hierfür ist es wichtig, nicht mit der damaligen Situation – im LIP mit dem Repräsentanten – zu verschmelzen, sondern aus der jetzigen Position – einer erwachseneren und reiferen – hinzuschauen und sich eben sich und die Vergangenheit anzunehmen, etwa in folgender Haltung:

So war es; es war schlimm und schön und schwierig und berauschend!

Und ich habe es überstanden und überlebt, bin daran gewachsen und gereift und jetzt steht ich hier und schaue auf mein Leben:

Versöhnt, zustimmend, kraftvoll und frei!

In diesem Sinne nutze ich das LIP auch in meinen Aufstellungen.

Probieren Sie es selbst aus!

Gerne begleite ich Sie dabei!

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